Das Gehirn von Neugeborenen und Unterschiede in der Sensibilität gegenüber der elterlichen Erziehung
8th September 2021 - Von Dr. Saara Nolvi und Dr. Claudia Buss
Über die Autoren
Dr. Saara Nolvi ist Post-Doktorandin an der Universität Turku. Ihre Forschung konzentriert sich auf frühe Umwelteinflüsse auf die Entwicklung der Selbstregulierung und die zugrunde liegenden neurobiologischen Mechanismen.
Dr. Claudia Buss ist Professorin an der Charité-Universitätsmedizin Berlin. Ihre Forschung konzentriert sich auf die fötale Programmierung der Gehirnentwicklung und die Mechanismen, die der intergenerationalen Übertragung von mütterlichem Stress zugrunde liegen.
Zusammenfassung
In unserer Studie wurde untersucht, ob Hirnmerkmale des Neugeborenen zur Sensibilität für die Qualität der elterlichen Erziehung im Hinblick auf die kognitive Entwicklung beitragen. Die Ergebnisse ergaben, dass Kinder mit einem größeren Gesamtgehirn und größeren Gehirnstrukturen, die mit der sozial-emotionalen Verarbeitung sowie mit der Stressregulierung zusammenhängen, bessere kognitive Ergebnisse zeigten, wenn sie einer höheren Erziehungsqualität genoßen haben, und schlechtere Ergebnisse, wenn sie einer niedrigeren Erziehungsqualität ausgesetzt waren.
Hintergrundinformationen
Es gibt eine Menge Forschungsergebnisse, die zeigen, dass Kinder unterschiedlich sensibel auf die Erziehungsqualität reagieren (1, 2) (siehe auch den Blogbeitrag von Dr. F. Lionetti: Elternqualität und sensible Kinder). So zeigen z. B. sensiblere Kinder, die eine unterstützenden Erziehung erleben, wie z. B. positive Erziehungspraktiken und eine höhere Empfindsamkeit der Eltern gegenüber den Bedürfnisse ihres Kindes, eine höhere soziale Kompetenz. Kinder, die keine guten elterlichen Erziehungspraktiken mitbekommen, wie z. B. eine strenge und negative Erziehung, können später in ihrer Entwicklung vermehrt Internalisierungs- und Verhaltensprobleme aufweisen.
Die Qualität der elterlichen Erziehung hängt auch mit der Entwicklung der kognitiven Funktionen zusammen (3). Insbesondere die kognitiven Funktionen höherer Ordnung, die so genannten exekutiven Funktionen, sind von Bedeutung, da sie sich in der frühen Kindheit rasch entwickeln und für viele Lebensbereiche wie schulische Leistungen, Alltagsfunktionen und sozial-emotionale Ergebnisse von Relevanz sind. Der Einfluss der elterlichen Erziehungsqualität auf die kognitiven Leistungen des Kindes ist wahrscheinlich bei Kindern mit unterschiedlichem Grad an Sensibilität unterschiedlich.
In jüngster Zeit hat die Forschung darauf hingearbeitet zu verstehen, welche Merkmale des Gehirns mit dem Grad der individuellen Sensibilität gegenüber der Umwelt zusammenhängen. Es wird vermutet, dass Hirnareale, die mit sozial-emotionaler Verarbeitung und Aufmerksamkeit (d. h. Salienznetzwerk; anteriores Cingulum) und Stressregulation (Hippocampus, Amygdala) zusammenhängen, zur Sensibilität beitragen (4).
Interessanterweise wurde die Gehirngröße regelmäßig mit kognitiven Leistungen in Verbindung gebracht, aber ihre Rolle in Bezug auf die Sensibilität einer Person gegenüber der Umwelt wurde nicht untersucht. Insgesamt wissen wir nur sehr wenig über die Merkmale, die der Sensibilität von Kleinkindern zugrunde liegen.
In unserer Studie untersuchten wir, ob Kinder mit bestimmten Hirnmerkmalen bei der Geburt (d. h. größere Gesamtgröße des Gehirns, Hippocampus und anteriores Cingulum) bei kognitiven Aufgaben im Kleinkind- und Vorschulalter besser abschneiden, wenn sie im Säuglingsalter eine gute elterlichen Erziehung erfahren haben (5). Im Gegenzug nahmen wir an, dass Kinder mit ähnlichen Gehirnmerkmalen schlechtere kognitive Funktionen aufweisen würden, wenn sie mit einer weniger guten elterlichen Erziehung in Berührung gekommen sind.
Wie wurde die Studie durchgeführt?
Wir untersuchten 53 Mutter-Kind-Paare, die an einer längsschnittlichen Kohortenstudie an der University of California Irvine teilnahmen. Die Gehirne der Neugeborenen wurden etwa 3-4 Wochen nach der Geburt mit Hilfe der Magnetresonanztomographie (MR) gescannt.
Die Erziehungsqualität der Mutter wurde in einer Mutter-Kind-Freispielsituation beobachtet, als das Kind 6 Monate alt war. Die kognitiven und exekutiven Fähigkeiten der Kinder wurden im Alter von 2 und 5 Jahren anhand von sechs standardisierten Aufgaben beurteilt, die verschiedene Aspekte der kognitiven Entwicklung messen (z. B. die Fähigkeit, sich die Position eines Aufklebers auf einem sich drehenden Tablett zu merken).
Was haben wir herausgefunden?
Insgesamt waren Neugeborene mit größeren Gehirnen im Vergleich zu ihren Altersgenossen mit kleineren Gehirnen bezüglich ihrer kognitiven Leistungen sensibler gegenüber der Qualität der elterlichen Erziehung.
Genauer gesagt, zeigten Kinder mit größeren Gehirnen in 4 von 6 Aufgaben bessere Leistungen, wenn die Erziehungsqualität bei ihnen hoch war. Im Unterschied dazu zeigten Kinder mit ähnlichen Hirnmerkmalen, aber geringerer elterlicher Erziehungsqualität, schlechtere Leistungen (siehe Abbildung 1 für ein Beispiel).
Darüber hinaus wurde ein größeres Volumen des Hippocampus bei Neugeborenen (d. h. eine Hirnstruktur, die mit Stressregulation und Kognition zusammenhängt) mit einer besseren Aufgabenleistung im Alter von 2 Jahren in Verbindung gebracht, wenn die Erziehungsqualität hoch war, aber mit einer schlechteren Aufgabenleistung, wenn die Erziehungsqualität niedrig lag. Ein größeres Volumen des anterioren Cingulums bei Neugeborenen (d. h. eine Struktur, die mit exekutiver Aufmerksamkeit und sozialer Verarbeitung zusammenhängt) erhöhte die Sensibilität des Kindes für die Qualität der Eltern in Bezug auf die kognitive Leistung im Alter von 5 Jahren.
Was bedeutet das?
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die strukturellen Merkmale des Gehirns bei der Geburt ein Indikator für die Sensibilität von Säuglingen gegenüber ihrer sozial-emotionalen Umgebung sein können. Der Grad der Sensibilität der Säuglinge wiederum zeigt an, inwieweit die Qualität der frühen Umgebung, in der sie aufwachsen, die kognitiven Ergebnisse beeinflussen kann.
Ein größeres Gehirnvolumen bei der Geburt im Allgemeinen und in den Bereichen, die für die soziale Verarbeitung, die Aufmerksamkeit und die Stressregulierung relevant sind, könnte also eine höhere Plastizität in diesen Gehirnregionen widerspiegeln (ein großes Volumen könnte auf mehr Neuronen und Axone hindeuten). Diese Plastizität erhöht wiederum die Fähigkeit, von einer qualitativ hochwertigen Umgebung zu profitieren.
Besonders neu an dieser Studie ist die Tatsache, dass Merkmale des Gehirns von Neugeborenen mit einer unterschiedlichen Sensibilität gegenüber der Umwelt in Verbindung stehen. Tatsächlich können die untersuchten neuronalen Merkmale noch nicht durch postnatale (z. B. elterliche) Erfahrungen geprägt worden sein. Daher sind die interindividuellen Unterschiede, die wir zum Zeitpunkt der Geburt beobachten, das Ergebnis genetischer und pränataler Umweltfaktoren.
Die Ergebnisse deuten auch darauf hin, dass viele Hirnareale, von denen man annimmt, dass sie die sozial-emotionale Entwicklung und die Kognition beeinflussen, auch mit individueller Sensibilität verbunden sind. Die “Neurowissenschaft der Sensibilität” wird uns also helfen zu verstehen, welche spezifischen kognitiven und emotionalen Funktionen der Sensibilität zugrunde liegen.
Darüber hinaus kann die Untersuchung der neuronalen Struktur und Funktion zu einem besseren Verständnis der Frage führen, ob die Sensibilität im Laufe der Zeit gesteigert werden kann oder ob es sich um ein festes Merkmal handelt.
Pränataler Stress kann beispielsweise Gehirnmerkmale beeinflussen, die sich wiederum auf die Sensibilität auswirken (siehe Blogbeitrag von Dr. S. Hartman: Pränataler Stress fördert die Entwicklung von Sensibilität). Dies deutet darauf hin, dass die Art und Weise, wie wir auf die Umwelt reagieren, eine Folge früherer Erfahrungen ist, die sich auf das Gehirn und seine Funktion auswirken, was wiederum die Art und Weise beeinflusst, wie wir Erfahrungen wahrnehmen und auf sie reagieren.
Wir brauchen jedoch mehr Informationen über die genauen Mechanismen, die diese Zusammenhänge erklären. Um das hochsensible Gehirn zu verstehen, sind in Zukunft auch wesentlich größere Stichproben erforderlich.
In unseren künftigen Studien werden wir weiter untersuchen, welche strukturellen und funktionellen Merkmale des Gehirns sowohl mit der individuellen Sensibilität als auch mit frühen Stressbelastungen im Leben zusammenhängen, um diese Fragen zu beantworten.
Abbildung 1. Der Zusammenhang zwischen mütterlicher Sensibilität (Erziehung) und den allgemeinen Fähigkeiten des Kindes im Alter von 5 Jahren. Die schwarzen Punkte zeigen Kinder mit einem größeren Gehirn bei der Geburt, und die grauen Punkte beschreiben Kinder mit einem kleineren Gesamthirn zum Zeitpunkt der Geburt.
Literatur
- Lionetti, F., Aron, E. N., Aron, A., Klein, D. N., & Pluess, M. (2019). Die von Beobachtern bewertete Umweltsensibilität mildert die Reaktion der Kinder auf die Erziehungsqualität in der frühen Kindheit. Entwicklungspsychologie, 55(11), 2389–2402. https://doi.org/10.1037/dev0000795
- Slagt, M., Dubas, J. S., van Aken, M. A. G., Ellis, B. J., & Deković, M. (2017). Die differentielle Anfälligkeit von Kindern für Elternschaft: Ein experimenteller Test von “zum Guten und zum Schlechten”. Journal of Experimental Child Psychology, 154,78–97. https://doi.org/10.1016/J.JECP.2016.10.004
- Fay-Stammbach, T., Hawes, D. J., & Meredith, P. (2014). Elterneinflüsse auf die Exekutivfunktion in der frühen Kindheit: Ein Rückblick. Child Development Perspectives, 8(4), 258–264. https://doi.org/10.1111/cdep.12095
- Greven, C. U., Lionetti, F., Booth, C., Aron, E. N., Fox, E., Schendan, H. E., Pluess, M., Bruining, H., Acevedo, B., Bijttebier, P., & Homberg, J. (2019). Sensory Processing Sensitivity im Kontext von Environmental Sensitivity: Eine kritische Überprüfung und Entwicklung der Forschungsagenda. Neuroscience and Biobehavioral Reviews, 98, 287-305. https://doi.org/10.1016/j.neubiorev.2019.01.009
- Nolvi, S., Rasmussen, J.M., Graham, A.M., Gilmore, J. H., Styner, M., Fair, D. A., Entringer, S., Wadhwa, P. D., & Buss, C. (2020). Das Gehirnvolumen von Neugeborenen als Marker für die differentielle Anfälligkeit für die Qualität der Elternschaft und ihre Assoziation mit der Neuroentwicklung in der frühen Kindheit. Entwicklungs-Kognitive Neurowissenschaften, 45