Sind hochbegabte Menschen wirklich hochsensibel? Die Entschlüsselung des Zusammenhangs
5th December 2023 - Von Dr. Véronique de Gucht und Dion H.A. Woestenburg
Über die Autoren
Véronique De Gucht hat einen Master-Abschluss in klinischer Psychologie, einen erweiterten Abschluss in kognitiver Verhaltenstherapie sowie einen Doktortitel in Gesundheitspsychologie. Derzeit ist sie außerordentliche Professorin für Gesundheits- und Medizinpsychologie an der Universität Leiden. In Zusammenarbeit mit Dion Woestenburg entwickelte sie den Fragebogen zur Empfindlichkeit der sensorischen Verarbeitung (SPSQ), der vor kurzem in den SPS-Monitor umgewandelt wurde, eine App, die den Benutzern ein unmittelbares Feedback gibt.
Dion H.A. Woestenburg hat einen Master-Abschluss in der Fachrichtung Methodologie und Statistik für Psychologie. Er arbeitete zusammen mit Dr. Mark de Rooij an der logistischen multidimensionalen Datenanalyse und ist derzeit an verschiedenen statistischen Projekten beteiligt, die wissenschaftliche Forschung, Entwicklung von Webanwendungen, Datenvisualisierung und Klassifizierungsaufgaben umfassen.
Zusammenfassung
In unserer Studie untersuchten wir, ob Hochbegabte höhere Werte bei der sensorischen Verarbeitungssensitivität (Sensory Processing Sensitivity, SPS) aufweisen. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Hochbegabte bei den negativen Aspekten der Sensibilität, wie z. B. der emotionalen und physiologischen Reaktivität, geringere Werte aufweisen, während sie bei den positiven Aspekten, wie z. B. der ästhetischen Sensibilität, höhere Werte erzielen. Diese Unterschiede lassen sich teilweise durch einen geringeren Neurotizismus und eine höhere Offenheit bei den begabten Befragten erklären.
Studienhintergrund und Studienziele
Bei hochbegabten Menschen mit außergewöhnlichen kognitiven Fähigkeiten wie einem hohen IQ, ausgeprägtem kritischem und abstraktem Denkvermögen und der Fähigkeit, komplexe Probleme schnell zu lösen, wird angenommen, dass sie auch eine hohe Sensibilität aufweisen. Dieser mögliche Zusammenhang beruht auf klinischen Beobachtungen, die Ähnlichkeiten zwischen Hochbegabung und hoher SPS feststellen (1).
Allerdings fehlt es an direkter wissenschaftlicher Unterstützung für diese Annahme, da frühere Studien nur indirekte Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen Hochbegabung und Hochsensibilität aufgrund von Ähnlichkeiten in ihren Persönlichkeitsprofilen geliefert haben. So wurde beispielsweise festgestellt, dass Hochbegabte häufig höhere Werte bei der Persönlichkeitseigenschaft Offenheit aufweisen, die durch Neugier und Empfänglichkeit für neue Ideen gekennzeichnet ist, und niedrigere Werte bei Neurotizismus, der mit emotionaler (Un-)Stabilität zusammenhängt (2).
In Studien zu SPS wurde ein schwacher positiver Zusammenhang zwischen Offenheit und SPS festgestellt, insbesondere in Bezug auf die ästhetische Sensibilität – ein positiver Aspekt von SPS. Darüber hinaus gibt es einen starken positiven Zusammenhang zwischen den negativen Aspekten von SPS und Neurotizismus (3, 4).
Das Hauptziel unserer Studie (5) war es, die Wissenslücke zu schließen, indem (Facetten von) SPS zwischen Hochbegabten und einer allgemeinen Bevölkerungsgruppe verglichen wurden. Ziel der Studie war es, zu untersuchen, ob begabte Personen eine erhöhte Sensibilität aufweisen und ob diese Beziehung durch die Persönlichkeitsmerkmale Offenheit und Neurotizismus erklärt werden kann.
Studienmethode
Die Studie umfasste zwei Teilnehmergruppen: hochbegabte Personen und die allgemeine Bevölkerung. Die Hochbegabten umfassten insgesamt 636 Teilnehmer mit einem IQ von mindestens 130. Die Gruppe der allgemeinen Bevölkerung bestand aus 10.291 Teilnehmern.
Zur Beurteilung von SPS wurde der Fragebogen Sensory Processing Sensitivity Questionnaire (SPSQ; 3) verwendet. Er umfasst sechs Subskalen, von denen vier positive Aspekte messen (sozial-affektive Sensibilität, ästhetische Sensibilität, Sensibilität für subtile innere und äußere Reize und sensorische Behaglichkeit), während die verbleibenden zwei Subskalen sich auf eher negative Aspekte von SPS konzentrieren (emotionale und physiologische Reaktivität und sensorisches Unbehagen). Offenheit und Neurotizismus wurden mit dem Big Five Inventory (BFI) gemessen.
Für die SPSQ-Faktoren wurden Faktorscores berechnet, und es wurde eine multivariate Kovarianzanalyse (MANCOVA) durchgeführt, um die Mittelwerte zwischen der hochbegabten und der allgemeinen Bevölkerungsgruppe zu vergleichen, wobei die demografischen Merkmale Geschlecht, Alter, Bildungsniveau und Beschäftigungsstatus als Kontrollvariablen dienten.
Um die indirekten Auswirkungen der Hochbegabung auf die SPSQ-Dimensionen über die Persönlichkeitseigenschaften Offenheit und Neurotizismus zu untersuchen, wurde die Strukturgleichungsmodellierung (SEM) eingesetzt.
Wichtigste Ergebnisse
Wir fanden relevante Unterschiede in der sensorischen Verarbeitungssensibilität zwischen Hochbegabten und der Allgemeinbevölkerung. Hochbegabte Personen zeigten insgesamt eine geringere Sensibilität und erzielten niedrigere Werte auf der negativen Dimension von SPS, aber höhere auf der positiven Dimension.
Insbesondere wiesen sie niedrigere Werte bei der emotionalen und physiologischen Reaktivität und höhere Werte bei der ästhetischen Sensibilität, der sozial-affektiven Sensibilität und dem sensorischen Komfort auf, selbst wenn man verschiedene demografische Faktoren berücksichtigt. Die Unterschiede zwischen den beiden Gruppen in Bezug auf die positiven Aspekte der SPS waren jedoch wesentlich geringer als die Unterschiede bei den negativen Aspekten.
Darüber hinaus ergab die Studie, dass die beobachteten Unterschiede in der Sensibilität teilweise auf die Persönlichkeitsmerkmale Offenheit und Neurotizismus zurückgeführt werden können.
Offenheit erklärte höhere Werte auf der positiven SPSQ-Dimension, insbesondere ästhetische Sensitivität, während Neurotizismus die niedrigeren Werte der Hochbegabten-Stichprobe auf der negativen SPSQ-Dimension, insbesondere emotionale und physiologische Reaktivität, erklärte.
In Anbetracht der Tatsache, dass Neurotizismus mit einem höheren Risiko für die Entwicklung psychischer Probleme verbunden ist, könnten diese Ergebnisse darauf hindeuten, dass hochbegabte Erwachsene ein geringeres Risiko haben, solche Probleme zu entwickeln.
Es stellt sich also die Frage, warum Hochbegabte tendenziell niedrigere Werte in der SPS erzielen, insbesondere in der negativen Dimension. Eine mögliche Hypothese ist, dass hochbegabte Menschen aufgrund ihrer schnellen kognitiven Verarbeitung und ihrer Fähigkeit, komplexe Probleme schnell zu lösen, über wirksame Bewältigungsfähigkeiten verfügen, wenn sie mit verschiedenen Umständen konfrontiert werden.
Infolgedessen ist die Wahrscheinlichkeit geringer, dass sie von einer Vielzahl von Reizen überwältigt werden. Der Befund, dass hochbegabte Personen auf der positiven Dimension des SPS, insbesondere der ästhetischen Sensibilität, höhere Werte erzielen, könnte auf bestimmte Eigenschaften zurückgeführt werden, die als charakteristisch für Hochbegabung gelten, wie z. B. Aufmerksamkeit für Details, Querdenken, Neugier und Kreativität.
Zum Schluss
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Hochbegabte tendenziell niedrigere Werte für die sensorische Verarbeitungssensitivität (SPS) aufweisen, insbesondere in der negativen Dimension. Sie weisen jedoch höhere Werte in der positiven Dimension der SPS auf, was teilweise auf ihre größere Offenheit für Erfahrungen zurückzuführen ist. Diese Ergebnisse verdeutlichen, wie wichtig es ist, diese positiven Aspekte bei der Beratung hochbegabter Erwachsener in den Vordergrund zu stellen, um ihnen die Entfaltung ihres vollen Potenzials zu ermöglichen.
Literatur
- Rinn, A. N., & Bishop, J. (2015). Gifted adults: A systematic review and analysis of the literature. Gifted Child Quarterly, 59, 213-235. https://doi.org/10.1177/0016986215600795.
- Ogurlu, U., Özbey, A. (2021). Personality differences in gifted versus non-gifted individuals: A three-level meta-analysis. High Ability Studies, https://doi.org/10.1080/13598139.2021.1985438
- De Gucht, V., Dion, Woestenburg, D. H. A., & Wilderjans, T. F. (2022). The Different Faces of (High) Sensitivity, Toward a More Comprehensive Measurement Instrument. Development and Validation of the Sensory Processing Sensitivity Questionnaire (SPSQ). Journal of Personality Assessment, 104, 784-799. https://doi.org/10.1080/00223891.2022.2032101
- Lionetti, F., Pastore, M., Moscardino, U., Nocentini, A., Pluess, K., Pluess, M. (2019). Sensory Processing Sensitivity and its association with personality traits and affect: A meta-analysis. Journal of Research in Personality, 81, 138-152. https://doi.org/10.1016/j.jrp.2019.05.013.
- De Gucht, V., Woestenburg, D. H. A., Backbier, E. (2023). Do gifted individuals exhibit higher levels of Sensory Processing Sensitivity and what role do Openness and Neuroticism play in this regard? Journal of Research in Personality, 104, https://doi.org/10.1016/j.jrp.2023.104376.