Sensible Kinder stärken: Wie warmherzige Erziehung die Emotionsregulation bei hochsensiblen Kindern fördert
8th January 2025 - Von Alessandra Sperati & Francesca Lionetti
Über die Autoren
Dr. Alessandra Sperati ist Entwicklungspsychologin und Postdoktorandin an der Universität Chieti-Pescara, Italien. Sie entwickelt Messinstrumente zur Bewertung von Sensitivität bei Säuglingen, Kleinkindern und Schulkindern. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Elternschaft, Bindungsbeziehungen sowie das Zusammenspiel von Sensitivität und Umweltfaktoren bei der Vorhersage von Entwicklungsverläufen.
Prof. Francesca Lionetti ist außerordentliche Professorin für Entwicklungspsychologie an der Universität Pavia, Italien. Ihre Hauptforschungsinteressen umfassen Elternschaft, Bindung, sozial-emotionale Entwicklung und Umweltsensitivität (Environmental Sensitivity, ES). Sie hat zur Entwicklung und Validierung von Sensitivitätsmessungen für die frühe Kindheit beigetragen und untersucht das Zusammenspiel zwischen ES und Elternschaft. Derzeit erweitert sie ihre Forschung zur ES-Eigenschaft im Rahmen von Eltern-Studien.
Zusammenfassung
Wir untersuchten die Verbindung zwischen hoher Sensitivität, Emotionsregulation und Elternschaft. Obwohl eine erhöhte Sensitivität Herausforderungen mit sich bringen kann, zeigen die Ergebnisse unserer Studie, dass warmherzige und einfühlsame Fürsorge die Emotionsregulation hochsensibler Kinder erheblich fördern kann. Diese Erkenntnisse unterstreichen die Bedeutung einer unterstützenden Elternschaft für die Entwicklung emotionaler Resilienz und das psychische Wohlbefinden sensibler Kinder.
Hohe Sensitivität, Emotionsregulation und Elternschaft: Was wir wissen
Einige Kinder besitzen ein höheres Maß an Sensitivität, was dazu führt, dass sie auf verschiedene Reize – einschließlich emotionaler – intensiver reagieren (1). Diese erhöhte Sensitivität beeinflusst ihre emotionalen Erfahrungen tiefgreifend; je intensiver die Emotion, desto schwieriger fällt es ihnen, diese zu regulieren (2). Hochsensible Kinder können sich dadurch leicht überfordert fühlen, was zu Herausforderungen in ihrer psychischen Anpassung und ihrem allgemeinen Wohlbefinden führen kann, insbesondere bei schlechter elterlicher Unterstützung (3, 4).
Dennoch stellt hohe Sensitivität keine inhärente Schwäche dar. Forschungsergebnisse zeigen, dass hochsensible Personen besonders empfänglich für positive Umwelteinflüsse sind. Werden sie einer unterstützenden Elternschaft ausgesetzt, profitieren sie stärker von positiven elterlichen Verhaltensweisen als weniger sensible Gleichaltrige (5). Dieses Phänomen, oft als „For Better and For Worse“-Effekt beschrieben, zeigt, dass die Ergebnisse hochsensibler Kinder stark von ihrem Umfeld abhängen (6, 7). Unterstützende und warmherzige Fürsorge kann sensible Kinder vor Verhaltensproblemen schützen und ihr emotionales Wohlbefinden fördern.
Obwohl diese Zusammenhänge bekannt sind, haben sich die meisten Studien auf Selbstauskünfte der Eltern gestützt und selten die Rolle der Emotionsregulation untersucht – ein zentraler Faktor für das psychische Wohlbefinden. Weitere Forschung ist daher notwendig, um die Beziehungen zwischen hoher Sensitivität, Emotionsregulation und Elternschaft besser zu verstehen.
Was wir herausfinden wollten
Um diese Forschungslücken zu schließen, hatte unsere Studie zwei Hauptziele (8):
- Die Beziehung zwischen hoher Sensitivität und Emotionsregulation bei Schulkindern zu untersuchen.
- Zu analysieren, ob hochsensible Kinder stärker auf warmherzige und einfühlsame Fürsorge reagieren.
Wie wir die Studie durchgeführt haben
Teilnehmende
Wir rekrutierten 118 Grundschulkinder (Durchschnittsalter: 6,5 Jahre; Altersspanne: 5–8 Jahre) und ihre Mütter (Durchschnittsalter: 37,7 Jahre; Altersspanne: 22–55 Jahre). Die Mehrheit der Teilnehmenden (83 %) hatte die italienische Staatsangehörigkeit. Die Rekrutierung erfolgte im Rahmen von Elternveranstaltungen an örtlichen Schulen.
Datenerhebung
Von den Kindern
Nach Einholung der Einverständniserklärung der Eltern nahmen die Kinder während der Schulzeit an individuellen Forschungssitzungen teil. Jede Sitzung begann mit einer fünfminütigen freien Spielphase, um die Kinder zu entspannen, gefolgt von der Durchführung des Manchester Child Attachment Story Task (MCAST) (9).
Die Sitzungen, die etwa 30 Minuten dauerten, wurden aufgezeichnet und anschließend codiert, um die internalisierten Vorstellungen von mütterlicher Fürsorge zu bewerten. Dabei lag der Fokus auf einfühlsamer und warmherziger Erziehung. Diese Methode ermöglichte eine Beobachtung, wie die Kinder ihre Erfahrungen mit mütterlicher Fürsorge als responsiv und liebevoll internalisierten.
Von den Müttern
Die Mütter füllten zu Hause papierbasierte Fragebögen aus, in denen sie die Sensitivität ihrer Kinder (Highly Sensitive Child Scale (4)) und deren Emotionsregulation (Emotion Regulation Checklist) (10) bewerteten.
Was wir herausgefunden haben
Sensitivität und Emotionsregulation: Eine komplexe Verbindung
Im Gegensatz zu Studien an Erwachsenen zeigte sich, dass hohe Sensitivität bei Schulkindern nicht direkt mit Schwierigkeiten in der Emotionsregulation verbunden ist (11). Dies stimmt mit einigen Untersuchungen an Jugendlichen überein, die darauf hinweisen, dass hohe Sensitivität nicht zwangsläufig mit einer schlechten Emotionsregulation in Verbindung steht.
Ein möglicher Erklärungsansatz ist, dass hohe Sensitivität erst im Laufe der Zeit zu einer Schwachstelle wird, wenn das Umfeld des Kindes nicht ausreichend positiv und unterstützend ist. Diese Erkenntnis unterstreicht die Notwendigkeit, Umweltfaktoren zu berücksichtigen, wenn die Rolle der Sensitivität bei der emotionalen Anpassung untersucht wird
Die Rolle warmherziger und einfühlsamer Fürsorge
Hochsensible Kinder, die internalisierte Vorstellungen von warmherziger und einfühlsamer Fürsorge hatten, zeigten signifikant bessere Fähigkeiten zur Emotionsregulation (siehe Abbildung 1). Im Gegensatz dazu hatten hochsensible Kinder, deren internalisierte Vorstellungen von Fürsorge weniger positiv waren, größere Schwierigkeiten, ihre Emotionen zu regulieren.
Dieses Ergebnis legt nahe, dass hochsensible Kinder möglicherweise eine stärkere Reaktion auf einfühlsame und liebevolle Erziehung zeigen, um ihre intensiven emotionalen Reaktionen besser bewältigen zu können. Ohne diese Unterstützung könnten sie größeren Herausforderungen gegenüberstehen als weniger sensible Kinder.
Implikationen
Theoretische Beiträge
Unsere Studie erweitert das Verständnis über die Verbindung zwischen Sensitivität und Emotionsregulation. Durch die Identifikation der moderierenden Rolle elterlicher Fürsorge liefert sie tiefere Einblicke in die Gründe, warum einige hochsensible Individuen anfälliger für emotionale Schwierigkeiten sind als andere.
Praktische Anwendungen
Diese Ergebnisse haben klare Implikationen für Elterntrainingsprogramme. Warmherzige und einfühlsame Fürsorge kann für hochsensible Kinder besonders vorteilhaft sein. Elterninterventionen, insbesondere solche, die auf der Bindungstheorie basieren, sollten die Rolle individueller Unterschiede in der Sensitivität integrieren, um diese Kinder besser zu unterstützen.
Hochsensible Kinder scheinen anfälliger für Herausforderungen in der Emotionsregulation zu sein, wodurch sichere und unterstützende Eltern-Kind-Beziehungen für ihre Entwicklung noch entscheidender werden.
Fazit
Diese Studie gehört zu den ersten, die die zugrunde liegenden Mechanismen untersuchen, welche die Verbindung zwischen Sensitivität und Emotionsregulation bei Kindern erklären. Sie hebt die entscheidende Rolle elterlicher Fürsorge hervor. Durch ein besseres Verständnis, wie Sensitivität und Erziehung miteinander interagieren, können wir hochsensible Kinder effektiver unterstützen, ihre intensiven emotionalen Erfahrungen zu bewältigen und ihr Wohlbefinden zu fördern.
Weitere Forschung ist notwendig, um dieses Wissen zu vertiefen und theoretische sowie praktische Ansätze zu entwickeln, die diesen Kindern helfen, ihr volles Potenzial zu entfalten.
Abbildung 1
Anmerkung. Positives IWM = sensible und warmherzige verinnerlichte Repräsentationen von Pflegeverhalten
Literatur
- Aron, E. N., and Aron, A. (1997). Sensory-processing sensitivity and its relation to introversion and emotionality. J. Pers. Soc. Psychol. 73, 345–368. doi: 10.1037/0022-3514.73.2.345
- Lionetti, F., & Pluess, M. (2024). The role of environmental sensitivity in the experience and processing of emotions: implications for well-being. Philosophical Transactions of the Royal Society B, 379(1908), 20230244.
- Lionetti, F., Aron, E. N., Aron, A., Klein, D. N., and Pluess, M. (2019). Observer-rated environmental sensitivity moderates children’s response to parenting quality in early childhood. Psychol. 55, 2389–2402. doi: 10.1037/dev0000795
- Sperati, A., Spinelli, M., Fasolo, M., Pastore, M., Pluess, M., and Lionetti, F. (2022). Investigating sensitivity through the lens of parents: validation of the parent-report version of the highly sensitive child scale. Psychopathol. 36, 1–14. doi: 10.1017/S0954579422001298
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- Sperati, A., Acevedo, B. P., Dellagiulia, A., Fasolo, M., Spinelli, M., D’Urso, G., & Lionetti, F. (2024). The contribution of Sensory Processing Sensitivity and internalized attachment representations on emotion regulation competencies in school-age children. Frontiers in Psychology, 15, 1357808.
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