Die Selbsterkenntnis der Hochsensibilität
23rd April 2023 - Von Dr. Natalie Banek
Über die Autoren
Dr. Natalie Banek ist Projektkoordinatorin an der Leibniz School of Education der Leibniz Universität Hannover in Deutschland. Dort promovierte sie am Institut für Berufspädagogik und Erwachsenenbildung im Bereich der beruflichen (Lehrer-)Bildung mit dem Schwerpunkt Hochsensibilität im Übergang Schule-Beruf.
Zusammenfassung
Diese qualitative Studie hat zur Entwicklung eines neuen theoretischen Aspekts der sensorischen Verarbeitungssensitivität geführt: Die Selbsterkenntnis der Hochsensibilität. Diese Sichtweise zielt darauf ab, den Prozess zu erklären, den hochsensible Menschen durchlaufen, um sich ihrer Sensibilität bewusst zu werden.
Obwohl zwischen 20-30 % der Gesamtbevölkerung hochsensibel sind, stellen viele von ihnen erst im Laufe der Zeit fest, dass ihr Verhalten und ihre Erlebnisse mit Sensibilität zu erklären sind. Mit anderen Worten, sich der eigenen Sensibilität bewusst zu werden und sich als hochsensible Person (HSP) zu identifizieren, spiegelt einen Prozess wider.
In dieser qualitativen Studie (1) habe ich eine Reihe von Interviews geführt, um zu untersuchen, wie hochsensible Menschen den Übergang von der Schule in den Beruf bewältigen, wobei ich mich besonders auf ihr Bewusstsein für ihre eigene Sensibilität konzentriert habe.
Ich habe die Grounded Theory Methodology (GTM) (2) angewendet, die die Entwicklung einer objektorientierten neuen Theorie auf der Grundlage empirischer Daten beinhaltet. Ich führte vier Experteninterviews (3), darunter einen Professor, zwei Doktoranden mit Forschungsschwerpunkt Sensibilität und einen Coach für HSPs mit langjähriger Erfahrung. Nach der Analyse dieser Interviews wurden vier weitere Interviews mit hochsensiblen Personen durchgeführt.
Wichtigste Ergebnisse
Die Ergebnisse der Interviews führten zur Entwicklung einer neuen Grounded Theory (GT) mit dem Namen “Der Prozess der Selbsterkenntnis der Hochsensibilität” (PSH).
Nach dieser Sichtweise kann das Gefühl des Andersseins als die ursächliche Bedingung angesehen werden, die den Prozess der Selbsterkenntnis bei HSP auslöst. Dieses Gefühl des Andersseins, das HSP oft von Kindheit an begleitet, entsteht durch ihre hochsensible Wahrnehmung und den Vergleich mit weniger sensiblen Menschen.
Die Betroffenen problematisierten ihr wahrgenommenes Anderssein und erklärten, dass sie sich “nicht normal” oder “seltsam” fühlten, bevor sie von der Existenz der sensorischen Verarbeitungssensibilität wussten. So war das Gefühl des Andersseins oft der Auslöser für die Auseinandersetzung mit ihrer hochsensiblen Persönlichkeit.
Ein Zustand, der oft daraus zu resultieren scheint, ist die Isolation. In ihrer wahrgenommenen Andersartigkeit ziehen sich HSPs oft zurück und haben im Vergleich zu anderen Jugendlichen eine eher kleine Gruppe Gleichaltriger. Vor allem wenn Begleiterkrankungen wie Angst- und Panikstörungen oder Depressionen hinzukommen, neigen HSP dazu, sich leichter von Gleichaltrigen zu isolieren.
Diese Tendenz in Verbindung mit dem Gefühl des Andersseins motiviert die Betroffenen dann eher dazu, ihre eigene Hochsensibilität zu ergründen.
Es gibt eine Reihe weiterer wichtiger Faktoren, die sich herauskristallisiert haben, wie z. B. physiologische Symptome (z. B. chronische Müdigkeit oder Muskelverspannungen), Angst vor Stigmatisierung (insbesondere die Angst, von der Gesellschaft als zu sensibel oder zu emotional angesehen zu werden), allgemeine Schwierigkeiten bei der Entscheidungsfindung (z. B. bei der Wahl eines Studiengangs oder einer Ausbildung) und fehlende berufliche Perspektiven (insbesondere die Unmöglichkeit, sich vorzustellen, “wie die anderen zu arbeiten”).
Diese Faktoren tragen zu spezifischen Handlungen der HPS bei, nämlich der Akzeptanz von Unterstützung (z. B. die Unterstützung der Eltern bei der Berufsorientierung und -wahl), dem Sprechen über Sensibilität (z. B. die Kommunikation über die eigene Sensibilität sowie sensible Wege der Kommunikation mit anderen) und verschiedenen Bewältigungsstrategien der Distanzierung (z. B. die Distanzierung von der eigenen Sensibilität, um in einer nicht hochsensiblen Gesellschaft zu funktionieren, durch Verdrängung der eigenen Hochsensibilität, emotionales Ausblenden, um sich nicht ständig überfordert zu fühlen, oder ein allgemeiner Mangel an Willenskraft).
Dies führt schließlich zu einer Neubewertung biografischer Schlüsselmomente angesichts ihrer entdeckten Hochsensibilität, was einen eigenständigen Reflexionsprozess darstellt, und zu einer Neuausrichtung des Lebens einschließlich einer beruflichen Neuorientierung.
Der Prozess der Selbsterkenntnis der Hochsensibilität (PSH)
Das endgültige PSH ist ein dreiphasiges Modell (siehe Abbildung 1). In jeder Phase erstreckt sich ein dimensionales Kontinuum zwischen zwei Polen. In der ersten Phase, der Phase des Erstkontakts, gibt es in der Regel einen Impuls von außen (d.h. die HSP lernt das Persönlichkeitsmerkmal der sensorisch-verarbeitenden Sensibilität kennen). Der Impuls von innen beschreibt eine innere Bereitschaft des Individuums, die beeinflusst, ob und wie der Impuls von außen wahrgenommen und verarbeitet wird.
In der zweiten Phase, der Phase des Testens, spannt das dimensionale Kontinuum zwischen den Gefühlen Erleichterung und Abwehr. Gefühle der Erleichterung entstehen als Folge des Gefühls des Andersseins, wenn die HSPs erkennen, dass es so etwas wie sensorisch-verarbeitende Sensibilität gibt und dass sie mit ihrer wahrgenommenen Andersartigkeit nicht allein sind. Abwehrgefühle können entstehen, wenn sich Betroffene beispielsweise aus Angst vor Stigmatisierung nicht als hochsensibel identifizieren wollen.
In der dritten Phase, der Phase der Selbsterkenntnis, kommt es schließlich entweder zur Akzeptanz oder Ablehnung der eigenen Hochsensibilität.
Die drei Phasen ermöglichen Pendelbewegungen innerhalb des dimensionalen Kontinuums wie ein Schwanken zwischen Gefühlen der Erleichterung und Gefühlen der Ablehnung, aber auch einen Wechsel zwischen den Phasen, die zum Teil mehrfach durchlaufen werden.
Schlussfolgerung
Der PSH unterteilt das Leben eines HSP in ein Vorher und ein Nachher. Vor der PSH kann das Gefühl des Andersseins und die Tendenz zur Isolation zu einem Mangel an Zugehörigkeitsgefühl führen. Gerade im Hinblick auf die Berufsorientierung und -wahl kann es bei HSPs zu einem Mangel an Orientierung und Perspektive kommen, was oft zu einem Gefühl der Überforderung oder gar zu einer ablehnenden Haltung führen kann.
Der Versuch, sich anderen anzupassen, führt oft dazu, dass man sich von seinen eigenen Bedürfnissen, Wünschen und Lebenszielen entfernt. Infolgedessen treffen HSP vor ihrem PSH oft eine Berufswahl, die nicht zu ihnen passt.
Erst nach dem PSH kann es zu einer Neubewertung biografischer Schlüsselmomente kommen, einschließlich Umdeutungen und Neuorientierung des Lebens. Dazu gehört häufig eine berufliche Neuorientierung, die in der Regel einer Orientierung nach dem eigenen Sinnempfinden folgt.
Durch den PSH wird eine Reflexion der Kriterien für die Arbeitszufriedenheit in Gang gesetzt, was wiederum eine Anpassung der Arbeitsbedingungen an hochsensible Bedürfnisse ermöglicht. In diesem Zusammenhang ist es nicht selten, dass die Idee eines Traumjobs (weiter-)entwickelt wird, während HSPs dennoch eine gewisse berufliche Offenheit und Flexibilität bewahren wollen.
Somit identifiziert die neue GT des Selbstbewusstseins von Hochsensiblen den PSH als einen Schlüsselmoment im Leben von HSPs während der Übergangsphase von der Schule zum Beruf, der von besonderer Bedeutung für die Prozesse der Berufsorientierung und -wahl ist (4)
Literatur
- Banek, N. (2022). Die Selbsterkenntnis der Hochsensibilität. Eine qualitative Studie am Beispiel hochsensibler Menschen im Übergang Schule-Beruf. Springer Nature VS. https://doi.org/10.1007/978-3-658-39358-8
- Strauss, A. L., Corbin, J. M. (1996). Grounded Theory: Grundlagen Qualitativer Sozialforschung. Weinheim.
- Meuser, M., Nagel, U. (2002). ExpertInneninterviews – vielfach erprobt, wenig be-dacht. Ein Beitrag zur qualitativen Methodendiskussion. In: Bogner, A., Littig, B./Menz, W. (Hrsg.): Das Experteninterview, 71-95. https://doi.org/10.1007/978-3-322-93270-9_3
- Witzel, A. (2000): Das problemzentrierte Interview. In: Forum Qualitative Sozi-alforschung/Forum: Qualitative Sozialforschung, 1(1), Art. 22, S. 1–13. https://doi.org/10. 1007/978-3-8349-9441-7_29.